Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts

Das Schriftschaffen des 19. Jahrhunderts wird gemeinhin als ein Zeitalter des Verfalls und des Niedergangs der Schriftkunst dargestellt, vor allem aufgrund der vielen gewagten, ornamentierten, fetten und anderweitig plakativen Akzidenzschriften. Ich habe das unzählige Male gelesen und nie so richtig nachvollziehen können. Allerdings sind diese Schriften auch wirklich erst in den letzten Jahren wieder ausgekramt und etwas rehabilitiert worden. Um so erfrischender zu lesen, dass František Musika sich auch nicht so ganz der landläufigen Meinung seiner Kollegen anschließen mochte. Trotzdem ist es bemerkenswert, wie deutlich er dies in seinem Werk Die schöne Schrift (Krásné Písmo) zum Ausdruck brachte:

Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts

»Wenn wir auch hier und da einer nachsichtigen Erwähnung der grundlegenden Akzidenzschriften begegnen, so können wir doch über ihre ornamentalen Varianten fast in der ganzen Fachliteratur der Welt nichts Lobendes lesen. Beinahe alle Kenner stimmen in einer sonst außerordentlich seltenen Einmütigkeit darin überein, daß man die gesamte Produktion ornamentaler Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts ohne Ausnahme und Gnade als unverantwortliches Zeichen schriftkünstlerischer Degeneration und Häßlichkeit verwerfen müsse.

Trotz dieser Einmütigkeit des Urteils hatte ich immer das Gefühl, daß es sich hier entweder um ein Mißverständnis, um Unverständnis oder ein hartnäckiges Vorurteil handelte. Ich kann mir nicht helfen, aber viele dieser proskribierten Schriften haben mir immer aufrichtig gefallen. Auch heute schäme ich mich dessen nicht und zögere nicht, sie unter die schönen Schriften einzuordnen. Der ganze Irrtum in der ästhetischen Wertschätzung dieser ausgesprochen attraktiven Schriften beruht zweifellos darauf, daß dieselben ästhetischen Maßstäbe, die sich auf dem Gebiet der für Buchzwecke bestimmten Brotschriften gewiß zufriedenstellend bewährt hatten, auf Schriften angewandt wurden, deren Entstehung völlig anderen Anforderungen entsprang und deren Schriftzeichnung von einer ganz anderen Aufgabe bestimmt war.

Während es bei der Buchschrift eine natürliche Forderung ist, daß ihre Zeichnung nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken soll, als ihrer Hauptfunktion — der leichten Lesbarkeit — zuträglich ist, muß es hingegen bei sämtlichen Grund- und ornamentalen Akzidenzschriften gestern wie heute eine kategorische Forderung sein, gerade diese Aufmerksamkeit in höchstem Maße zu erregen. Wenn man sie als Buchschriften auffaßt, kann man die Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts freilich als schlechte oder Verfallsschriften bezeichnen; aber der Irrtum beruht ja gerade darauf, daß es sich hier überhaupt nicht um Buchschriften handelt.

Wenn man übrigens diesen kompromißlosen Standpunkt der Utilität, mit dem der graphische Wert der Buchdruckschriften gemessen wird, konsequent auf die ganze Geschichte der Buchschrift vor der Entdeckung des Buchdrucks übertragen wollte, müßten notwendigerweise auch viele schöne Beispiele des Schriftschaffens der alten Kalligraphieschulen verworfen werden, in dem die Nützlichkeit bekanntlich sehr oft hinter das überwiegende Streben nach ästhetischer Wirkung zurücktrat. Die Schreiber aller berühmten Kalligraphieschulen hatten eine eigenartige, von der eigentlichen Bestimmung der Schrift unabhängige Schönheit im Sinn. Das Alphabet war ihnen oft vor allem Mittel des schöpferischen Ausdrucks, mit der Schriftzeichnung wollten sie die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln und ihm ein ästhetisches Erlebnis auch dort vermitteln, wo es der heutige Leser nicht sucht und auch nicht findet. «

Aus: Musika, František: Die schöne Schrift (in der Entwicklung des lateinischen Alphabets); Band II, S. 289. Deutsch von Max A. Schönwälder, Artia Verlag Prag, 1965