Schriftklassifikation in a nutshell

Meine Einteilung nach Formprinzip habe ich 1998 im DIN-Ausschuss zur Klassifikation der Schriften vorgestellt. Dort lernte ich auch Max Bollwage und Hans Peter Willberg kennen, die später mein Konzept in ihre Büchern übernommen haben.

Hier eine Passage aus meinem Buch Buchstaben kommen selten allein (gekürzt).

Worin unterscheiden sich Schriften?
Am augenscheinlichsten kann man zwischen Serifenschriften und Serifenlosen unterscheiden. Das zweite wichtige Merkmal ist ihr Strichkontrast und dessen Verlauf im Buchstaben. Dabei kann man drei verschiedene Grundprinzipien erkennen:
1. von dem Schreiben mit der Breitfeder ausgehend (Renaissance-Charakter, dynamisches Formprinzip, Translation)
2. von der Spitzfeder herrührend (klassizistischer Charakter, statisches Formprinzip, Expansion)
3. von der Redisfeder inspiriert (konstruierter Charakter, geometrisches Formprinzip, kein Strichkontrast)

dynamisches Formprinzip:
schräge Kontrastachse, offene, runde Formen des a, c und e, zweibäuchiges g, schräger Strichansatz, differenzierte organische Form. Versalien orientieren sich in Form und Proportion an der römischen Kapitalis, gerader diagonalen Abstrich bei R.
Diese Merkmale gelten auch bei Verringerung des Kontrasts und dem Verstärken oder Weglassen der Serifen.
typische Vertreter: Garamond, Barmeno, Syntax, Caecilia, Swift

statisches Formprinzip:
gerade Kontrastachse, hoher Strichkontrast, statische, geschlossene Buchstabenformen sichtbar bei R, a, e und s, regelmäßige, ähnliche Formen z.B. bei b, d, q und p. Versalien sind alle ähnlich breit, Abstrich des R geht gerundet nach unten. Diese Merkmale gelten auch für die Serifenbetonten und Groteskschriften ohne Strichkontrast.
typische Vertreter: Bodoni, Britannica, Helvetica, Boton, Clarendon

geometrisches Formprinzip:
kein Strichkontrast, konstruierte Formen, O und andere Buchstaben sind optisch zirkelrund. Versalien folgen den Proportionen der Kapitalis, R mit diagonalem Abstrich.
typische Vertreter: Futura, Memphis, Tekton, Isonorm

Klassifikation nach Formprinzip
Die hauptsächlichen Unterscheidungsmerkmale von Schriften sind also die Serifen, gefolgt vom sichtbaren Strichstärkenunterschied. Nach diesen Ausstattungsmerkmalen kann man alle Schriften waagerecht in Hauptgruppen unterteilt. In der Senkrechten wird nach den drei Formprinzipien unterschieden, ergänzt um eine Gruppe für dekorative und weniger eindeutige Schriftentwürfe.

Möchte man zwei Schriften mischen, ist es in der Regel gefahrlos, Vertreter eines Formprinzips zu kombinieren (z.B. Garamond + Syntax). In der Übersicht nebeneinander stehende Schriften, also unterschiedlichen Formprinzips, harmonieren dagegen meist nicht so gut miteinander (z.B. Frutiger + Helvetica).

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Formprinzip oder DIN-Klassifikation?
Die Einteilung nach Formprinzip steht im klaren Kontrast zur amtierenden deutschen DIN-Klassifikation 16518 mit ihrer historischen, teils recht groben Einteilung. International findet man noch weitere unterschiedliche Methoden der Klassifikationen und auch jeder Schriftenhersteller strukturiert seine Bibliothek nach eigenen Kriterien. Sehr verbreitet ist die Einteilung von Maximilian Vox, die in den 1960er Jahren Vorbild für die DIN-Klassifikation war. Die Gruppennamen sind für den normalen Anwender jedoch recht schwer nachzuvollziehen.

Die Klassifikation nach Formprinzip lässt sich in der Tiefe um die historisch gewachsenen Untergruppen erweitern. Zum Vergleich links die Einteilung der DIN und Bezeichnung des Vox-Systems.

klassifikation

Noch ein paar Gedanken zur Klassifikation in englisch/some thoughts on classification in english

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